C. Research Area Ikonizität | Universität Gießen

Leitung: Matteo Nanni


Musikalische Notenschriften sind besondere Ausprägungen des Schreibens aus dem Geist des Ikonischen, insofern dieses auf eine musikalische Klanggestalt hinzudeuten beabsichtigt und auf eine strukturierte visuelle Logik gründet. Die Verwobenheit der Klänge mit Zeit und Bewegung, die Unfasslichkeit und Unsichtbarkeit ihres zeitlich-räumlichen Wesens macht die Niederschrift akustischer Phänomene zu einem genuin schrift- und bildtheoretischen Problem. Bereits in der Musiklehre des Mittelalters gehen die Versuche der Fixierung von Klängen sowie die Vermittlung von musikalischem Wissen auf Vorstellungsmuster zurück, die auf eine konkrete Medialität des Sichtbarmachens zielen. Besonders das Moment der Ikonizität und der „ikonischen Differenz“ (G. Boehm), das Notationssysteme vom Mittelalter bis zur Gegenwart prägt, liefert hierbei einen substantiellen Beitrag für die Untersuchung der epistemischen Strategien von Visualisierungsprozessen in Schrift- und Bildsystemen. Die hier dargelegten Projekte bauen auf folgenden theoretisch-methodischen Perspektiven auf: Diagrammatologie, Transmedialität und Bildtheorie. Diese sollen zum einen dazu beitragen, die Lücke zwischen einer allgemeinen Kulturgeschichte der Visualisierung und der Theorie der Notation zu schließen und zum anderen einen regen Austausch mit den anderen drei Research Areas fördern.


C. 1. Teilprojekt: Zur Logik des Diagrammatischen – Semiotik des Visuellen in frühen Notationen

Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Kulturgeschichte der Visualisierung wird in diesem Projekt die visuelle Logik früher Notationen vom Mittelalter bis hin zur frühen Neuzeit untersucht. Einen Ausgangspunkt bildet dabei die Frage nach der Interaktion zwischen Visualität und Notation, zwischen operativer Schriftbildlichkeit und impliziertem Klang. Methodologisch schließt das Projekt somit an eine schrifttheoretisch-diagrammatologische Perspektive an (Stjernfelt 2007, Krämer 2009), die zur Erprobung des Paradigmas von einer Visualisierung des Wissens weitere Bildtheorien von Gottfried Böhm bis Sigrid Weigel sowie kognitionstheoretische Modelle hinzuzieht. Das Themenspektrum reicht von der visuellen Logik paläofränkischer und aquitanischer Neumenschriften über (den interkulturellen Vergleich der mit ihnen konkurrierenden) Buchstabennotationen und mnemonische Visualisierungen und Diagramme (z.B. Guidonische Hand, Dasia-Notation und Tabulaturen) bis hin zur bildlich-polymedialen Funktionen von Musikhandschriften. Die Untersuchung verschiedener Strategien musikalischer Visualisierung zielt somit auf einen Beitrag zu einer historisch und systematisch umfassenden Theorie der Notation, der durch die Verflechtung von Hören und Sehen, von Schrift und Bild, sowie Materialität und Geschichte zugleich im Austausch mit Teilprojekten zur Materialität und Operativität steht.


C. 2. Teilprojekt: Diagrammatik, Ikonizität und mediale Entgrenzungen in der graphischen Notation

Die für die Research Area „Ikonizität“ zentralen Fragen nach der visuellen Logik von Notationsformen sowie nach den Projektions- bzw. Übersetzungsverfahren, die bei der Verräumlichung von Klang am Werk sind, werden in diesem Projekt am Gegenstandsbereich der graphischen Notation behandelt. Die graphischen Partituren, die in den musikalischen Avantgarden nach 1950 entstehen, zeigen grundlegende Veränderungen in der Notationspraxis auf: Diagrammatische Konventionen – im Laufe der Notationsgeschichte zu einer Art zweiter Natur geworden – werden aufgebrochen, umgedeutet, kommentiert und ästhetisiert. An den Hybridformen von Notation und Bild (etwa bei Sylvano Bussotti) lassen sich nicht nur Wechselwirkungen mit den bildenden Künsten beobachten; auch das in der modernen und zeitgenössischen Kunst so zentrale Moment von Reflexivität zieht hier in die Musikschriftlichkeit ein.

Unter Berücksichtigung der musikästhetischen Debatten der Zeit sollen die Wandlungen in der Notationspraxis an konkreten Beispielen aus den 1950er bis 1970er Jahren beschrieben und begrifflich-konzeptuell für eine Theorie der Notation fruchtbar gemacht werden. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit neuen Forschungsimpulsen zur Schriftbildlichkeit und Diagrammatik (S. Krämer) sowie zur Bildtheorie (G. Boehm, S. Weigel) richtet sich das Interesse des Projekts insbesondere auf das Verhältnis von Zeichen, graphischer Konfiguration und resultierendem Klang sowie auf die verschiedenen Strategien zur Nutzung des Darstellungspotenzials des Schriftraumes (z.B. zur Konstitution offener Formen). In Hinblick auf die „Gleichräumigkeit“ von projiziertem Klang und Szenischem im Œuvre Bussottis sowie auf die Musikalisierung theatralischer Momente bei Mauricio Kagel sollen dabei auch die medialen Verschränkungen einer graphisch angelegten Schrift für das Musiktheater in den Blick genommen werden.


C. 3. Teilprojekt: Bild als Prozess in den Skizzen von Komponisten des 20. Jahrhunderts  (Cotutelle Wien/Gießen)

siehe B. 2.